Fotografische Streifzüge ins Wortreich - Walderdbeeren


Angedeutet hatte ich es ja schon: Die kleine rote Walderdbeere begeistert mich momentan so sehr, dass ich sie schonmal im Projekt Gutenberg gesucht - und erwartungsgemäß gefunden - hatte. Und weil es dort erstens viele interessante literarische Fundstellen gibt und ich zweitens finde, dass die "Fragaria vesca" eine besondere Würdigung verdient hat, gibt es hier endlich mal wieder eine neue Folge von "Fotografische Streifzüge ins Wortreich". Interessant ist übrigens auch der Wikipedia-Artikel - insbesondere die Kapitel über Walderdbeeren in Kunst und Mythologie. Ich ahnte gar nicht, welche Bedeutung das kleine rote Früchtchen hat(te). Und ich habe gelernt, dass das scheinbar Naheliegende ganz schön weit ist von der Realität: Die Walderdbeere ist nämlich nicht die Wildform unserer heutigen Gartenerdbeere - dafür sind vielmehr Chile-Erdbeere und Scharlach-Erdbeere verantwortlich (die ich bis heute nicht kannte).


Die ersten beiden Treffer auf der Ergebnisliste für "Walderdbeere" im Projekt Gutenberg sind Kochbücher:
  1. Rottenhöfers Kochbuch - Neue vollständige theoretisch-praktische Anweisung in der feinen Kochkunst mit besonderer Berücksichtigung der herrschaftlichen und bürgerlichen Küche (J. Rottenhöfer, königlicher Haushofmeister und vorher erstem Mundkoche weiland seiner Majestät des Königs Maximilian II. von Bayern)
  2. Henriette Davidis ("die Mutter aller deutschen Kochbücher"): Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche mit besonderer Berücksichtigung der Anfängerinnen und angehenden Hausfrauen - Mit über 1500 Rezepten, nebst einem Anhange "Die Kunst gut und billig zu essen"
Wunderbar - unterschiedlicher können Kochbücher kaum sein... 

Herr Rottenhöfer bietet uns eine Kaltschale von Erdbeeren (Soupe froide aux fraises):

2 1/10 Liter schöne trockene reife Walderdbeeren werden rein gewaschen und auf ein reines Tuch auseinander gelegt, hierauf der vierte Theil davon, die schönsten mit einer Nadel ausgesucht und in einer Porzellan-Schale auf‘s Eis gestellt. Die Uebrigen werden durch ein Haarsieb in eine irdene Schüssel gepreßt, mit 840 Gramm gestoßenem Zucker abgerührt und mit zwei Bouteillen Rheinwein, dem Safte einer Zitrone begossen und nochmals in die vorher schon im gestampften Eis mit Salz gut eingegrabene porzellanene Suppen-Terrine durch ein Sieb geseiht, zugedeckt und drei bis vier Stunden gut erkalten lassen. Die ganzen Erdbeeren werden ebenfalls dazu gethan und, wenn die Kaltschale noch nicht süß genug wäre, so wird geläuterter Zucker-Syrup nachgegossen.


Frau Davidis dagegen empfiehlt Erdbeerschaum in Gläsern:

1 Liter ganz reife Walderdbeeren, ¼ Liter dicke, süße Sahne, 200 Gramm gesiebter Zucker und etwas abgeriebene Zitronenschale. - Die Beeren werden mit der Sahne zerrührt, durch ein Sieb gestrichen, mit Zucker und Zitronenschale zu steifem Schaum geschlagen und in Gläsern serviert. 

Also, ehrlich gesagt: Klingt beides nicht schlecht. Und den Erdbeerschaum finde ich besonders interessant. Ich habe jedenfalls noch nie Obst in Sahne zerdrückt und anschließend zu Crème geschlagen. Wobei ich mich natürlich frage, ob "dicke Sahne" mit unserer Schlagsahne zu vergleichen ist. Wohl eher nicht.


Der nächste Treffer kommt von Adalbert Stifter. Bei diesem Namen muss ich immer an meine Schulzeit und den "Bergkristall" in Form eines kleinen gelben Reclam-Heftchens denken. Zum Thema hier steuert er eine hübsche Geschichte bei (aus "Der Waldsteig", Kapitel 11):

... Aber das Tuch konnte das Körbchen nicht überall verdeken, sondern dasselbe sah an manchen Stellen sammt seinem Inhalte heraus. Dieser Inhalt bestand in Erdbeeren. Es war jene Gattung kleiner würziger Walderdbeeren, die in dem Gebirge den ganzen Sommer hindurch zu haben sind, wenn man sie nur an gehörigen Stellen zu suchen versteht.
Als Herr Tiburius die Erdbeeren gesehen hatte, erwachte in ihm ein Verlangen, einige davon zu haben, wozu ihn namentlich der Hunger, den er sich immer auf seinen Waldspaziergängen zuzog, antreiben mochte. Er erkannte aus der Ausrüstung, daß das Mädchen eine Erdbeerverkäuferin sei, wie sie gerne in das Bad kamen, und theils an den Eken und Thüren der Häuser theils in den Wohnungen selber ihre Waare zum Verkaufe ausbiethen. Im Angesichte hatte er das Mädchen gar nicht angeschaut. Er stand eine Weile in seinem grauen Roke vor ihr, dann sagte er endlich: »Wenn du diese Erdbeeren ohnehin zu Markte bringst, so thätest du mir einen Gefallen, wenn du mir auch gleich hier einen ganz kleinen Theil derselben verkauftest, ich werde sie dir gut zahlen, das heißt, wenn du auf den Verkauf hinauf noch einen kleinen Weg mit mir zur Straße hinaus gehst, weil ich hier kein Geld habe.« ...

 

Damit bei meinen literarischen Streiifzügen auch Frauen zu Wort kommen (die Dominanz der Männer ist auch im Projekt Gutenberg sehr auffällig), habe ich mich nun für Eugenie Marlitt und ihre "Thüringer Erzählungen", Kapitel 3, entschieden. Und damit wären wir dann auch beim wichtigsten Unterschied zwischen Wald- und Gartenerdbeere:

... Welche Fülle von Erinnerungen aus der Kinderzeit stieg in Lilis Seele auf, als ein liebliches Aroma dem langgebogenen, häßlichen Schnabel der Teekanne entquoll und das Zimmer durchduftete! Das war freilich nicht der kostbare Blumentee, den Seine Majestät von China höchstselbst zu schlürfen pflegte, nicht der feine Pekko, den das verwöhnte Kind der großen Stadt daheim trank, die Blätter der heimischen Walderdbeere waren es, die unter dem siedenden Wasser ihre Duftadern öffneten und gesunde, kräftige Säfte ausströmten. Bei Tante Bärbchen wurde nur dieser Tee getrunken, und wenn die alte Dorte gute Laune hatte, dann steckte sie auch noch einen Zimmetstengel hinein ...


Sehr anregend auch die Lektüre von Eugen von Vaerst: Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel (erster Band, Kapitel 6). Ein Tipp übrigens für alle, die beim nächsten Waldspaziergang Walderdbeeren entdecken und einmal probieren möchten: Nur die ganz ganz reifen dunkelroten Früchte haben das typische Walderdbeeraroma (nach Erdbeeren, Rosen und Orangenblüten), die helleren Früchte - vor allem die mit einer hellen "Backe" - schmecken noch nach (fast) nichts.

... Gewächse in Treibhäusern, die bloß durch die Kunst reifen, sind ohne Süßigkeit, Geschmack und Aroma; sie sind gut für die Tafel des Lukullus. Dergleichen Kunstprodukte befriedigen den eiteln Wirt, nicht den verständigen Gast, der den späteren, reineren, rechtzeitigen Genuß solchem Charlatanismus vorzieht. Frühbeete ohne künstliche Erwärmung, die bloß die jungen Gemüse gegen die Kälte schützen, sind ungleich besser als Treibhäuser, am besten die in französischen Gemüsegärten sehr üblichen Glasglocken. Aber alles das so Erzielte steht dem reinen Naturprodukt nach, wie schon die gepflegte Gartenerdbeere beweist, die jederzeit der Walderdbeere an Geschmack wie an Aroma nachsteht. In Rußland ist die Kunst hierin am weitesten gediehen. Das ist natürlich, eben weil die Natur so wenig bietet; in Italien denkt kein Mensch an so etwas. In Petersburg wird in strengster Winterkälte viel Obst in den Treibhäusern erkünstelt. Es gewährt den herrlichsten Anblick, aber nicht das Aroma, welches Sonne und Luft dem im Freien gewachsenen Obste gibt; jenes sind nur traurige Surrogate, geschmacklos und wässerig...


Und zum Schluss noch ein paar schöne Zeilen von Theodor Fontane aus "L'Adultera", Kapitel 22:

... Das Beste des Lebens, das wiss' er aus eigner Erfahrung, sei das Inkognito. Alles, was sich auf den Markt oder auf die Straße stelle, das tauge nichts oder habe doch nur Alltagswert; das, was wirklich Wert habe, das ziehe sich zurück, das berge sich in Stille, das verstecke sich. Die lieblichste Blume, darüber könne kein Zweifel sein, sei das Veilchen, und die poetischste Frucht, darüber könne wiederum kein Zweifel sein, sei die Walderdbeere. Beide versteckten sich aber, beide ließen sich suchen, beide lebten sozusagen inkognito...

Bisher erschienen in der Serie "Fotografische Streifzüge ins Wortreich"

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