Wer hat Angst vorm Algorithmus?

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Wer hätte das gedacht? Da schleicht sich langsam aber unaufhaltsam ein Begriff in unsere Alltagssprache, dem die meisten von uns nach Abschluss der Schulzeit nie wieder begegnen wollten - und schon gar nicht, um sich damit aktiv zu beschäftigen.

Doch nun lauert er überall, der Algorithmus. Er bestimmt unser Wissen, er lenkt unser Gehirn, er manipuliert unsere Wünsche, er übernimmt das Kommando. Böser Algorithmus.

Das jedenfalls versuchen uns  Menschen wie Miriam Meckel (Algorithmen übernehmen die Weltherrschaft) oder Eli Pariser (mit seinem jetzt auf Deutsch erschienen Buch "Filter Bubble - Wie wir im Internet entmündigt werden") einzureden. Nach deren Ansicht füttern wir die Algorithmen durch unser Verhalten im Netz, damit diese zunehmend einseitiger bestimmen, was uns "das Internet" anbietet. Mit anderen Worten: Je mehr Informationen wir durch unser Kauf-, Lese- und Nutzerverhalten produzieren, desto einseitiger - also auf unsere Vorlieben abgestimmt - sind die Angebote, die wir z.B. von Google geliefert bekommen. Ist das wirklich so? Und wenn ja, ist das schlimm?

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In der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsmagazins "brand eins" las ich gerade ein Interview mit Eli Pariser und ich frage mich, ob der junge Mann eigentlich weiß, wovon er redet, wenn er "dem Internet" unsere Entmündigung vorwirft. Mag sein, dass er das in seinem zarten Alter so empfindet - weil er selbstverständlich mit dem Internet aufgewachsen ist und außerhalb des Internets wahrscheinlich kaum andere Informationsquellen nutzt. Außerdem kann sich der in den USA lebende Herr Pariser wohl kaum vorstellen, dass es Millionen von Menschen gibt auf dieser Welt, die froh wären um einen freien Zugang wenigstens zu einem Bruchteil der uns selbstverständlich zugänglichen Informationen - damit sie sich aus der Entmündigung durch ihre Regimes befreien können.

Aber wir brauchen ja gar nicht bis in die arabische Welt zu schauen: Auch hier bei uns bewegt sich noch immer ein großer Teil der Bevölkerung noch gar nicht im Internet - und diejenigen, die den Schritt dann doch irgendwann wagen, merken auf einmal, wie viele Informationen ihnen plötzlich zur Verfügung stehen. Informationen, die sie nicht in Büchern, nicht im Fernsehen oder Radio und auch nicht in diversen Zeitungen und Zeitschriften gefunden haben - schon allein deshalb nicht, weil man in diesen Medien nicht gezielt nach einem Stichwort suchen kann.

Und wir? Die wir täglich und ausgiebig das Internet als Info-Quelle nutzen? Wir, die Fortgeschrittenen, die nach den interessanten Informationen hinter den Mainstream-Nachrichten suchen? Schränken uns die Algorithmen im Internet mehr ein als die Redaktionen von Funk, Fernsehen und Zeitungen? Ich greife mal ein paar Aussagen aus dem Interview mit Eli Pariser auf und gebe meinen Senf dazu:
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"Wenn ich Barack Obama googele, dann erwarte ich eine Liste der wichtigsten Websites über den Präsidenten ...  ich bekomme jedoch nur noch das vorgesetzt, was meine bestehenden Ansichten und Einsichten bestätigt." (Eli Pariser)
Lieber Herr Pariser, wenn ich Barack Obama googele, dann freue ich mich über den ersten Treffer, den Wikipedia-Artikel über den amerikanischen Präsidenten. Denn mehr kann ich nicht wirklich wissen wollen, wenn ich nur diese zwei Worte in die Suchleiste eintippe. Alle, die auf der Suche nach Hintergrundinformationen sind, die über einen Lexikon-Eintrag hinausgehen, geben garantiert weitere Suchworte ein - und werden dann auch entsprechend fündig. Und da wir uns eben nicht entmündigen lassen,
glauben wir auch nicht nur den ersten drei Treffern. Aber selbst Internet-Nutzer/innen, die sich nicht so sicher und selbstverständlich im Netz bewegen wie wir, erhalten garantiert deutlich mehr Informationen als aus den herkömmlichen Medien. Und sie erweitern dadurch ihr Weltbild und verlassen eingefahrene Gleise. Reden Sie mal mit "Späteinsteigern" darüber.
"Bei den so genannten alten Medien habe ich eine mehr oder weniger genaue Vorstellung, welche Fakten fehlen oder besonders betont werden. Bei Facebook, Google oder Yahoo habe ich keine Ahnung, welches Profil ... darüber entscheidet, was ich zu sehen bekomme." (Eli Pariser)
Soso, das wäre ja ganz was Neues, wenn die Leser/innen der Bildzeitung, taz oder FAZ genau wüssten, welche Informationen ihnen vorenthalten oder einseitig präsentiert werden. Oder vielleicht ist es sogar noch schlimmer: Die Leser/innen wollen vielleicht gar nicht wissen, welche Fakten sie nicht zu lesen bekommen. Sonst müssten sie ja nachdenken oder ihr Weltbild ver-rücken. Jeder liest das, was er oder sie lesen will - online wie offline. Aber Online kann ich wenigstens aktiv nach anderen Info-Quellen suchen. In der Zeitung nicht. Abgesehen davon können wir z.B. unser Google-Profil einsehen, löschen, deaktivieren oder bearbeiten.
"Was am Häufigsten angeklickt wird, gewinnt - und das sind leere Kalorien für die Wissensgesellschaft." (Eli Pariser)
Nein, das sind keine leeren Kalorien, das sind die Grundnahrungsmittel - die Basis, die für die meisten Menschen ausreichend ist, weil sie auch nicht mehr erwarten. Wie arrogant bitte ist das denn, wenn ich diejenigen als Hohlköppe (oder was sonst meint Pariser mit "leeren Kalorien"?) bezeichne, die sich mit der Basiskost zufrieden geben? Die anderen, denen das nicht ausreicht, werden sich zu helfen wissen und das Zusatzfutter finden - die Kost für den gehobenen geistigen Gaumen, die nötig ist, um Debatten zu beleben, Innovationen zu befördern, Inspirationen zu liefern oder Erkenntnisgewinne zu produzieren.

Auch ich finde es richtig und wichtig, Prozesse im Internet zu hinterfragen, Fehlentwicklungen aufzudecken und alle Nutzer/innen darüber aufzuklären, wie "das Internet" funktioniert; welche Möglichkeiten sie haben, Einfluss auf ihr Profil zu nehmen; welche Gefahren es gibt; vor allem aber: Wie sie Informationen jenseits des Mainstreams finden können (wenn sie sie suchen). Die Pauschalkritik an der "Entmündigung durch Algorithmen" ignoriert und verschleiert, dass das Internet für einen Großteil unserer Weltbevölkerung (wahrscheinlich sogar für die Mehrheit) in erster Linie ein Mittel zu größerer Eigenständigkeit und damit auch Mündigkeit bedeutet.

Und solange die Google-Algorithmen aufgrund meines Verhaltens im Internet finden, ich sei zwischen 25 und 34 Jahre alt und männlich, solange habe ich noch nicht wirklich Angst vor den Algorithmen.

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