Neinsagen macht manchmal einsam - manchmal bin ich gern einsam

Als ich heute das Radio einschaltete, wurde gerade über den "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" berichtet. Dabei musste ich plötzlich an ein lange zurückliegendes Ereignis denken: Meiner Erinnerung nach war es der 27. Januar 1995 - also der 50. Jahrestag der Befreiung der Auschwitz-Überlebenden.

Ich war damals Bezirksabgeordnete in Hamburg-Nord und saß in einer vollbesetzten Schulaula anlässlich der bezirklichen Gedenkfeier. Gäste auf der Bühne waren u.a. Ralph Giordano (in diesem Hamburger Bezirk geboren) und Esther Bejarano (Mitglied des Mädchenorchesters von Auschwitz) mit ihrer Tochter Edna und ihrem damaligen Musikensemble.

Es war ein tief bewegender Abend, der sich auch und gerade um das Thema Neinsagen, Widerstand, Gegenläufer drehte. Wer damals ein wenig über die gehörten Worte nachgedacht hat, wird sich selbst gefragt haben, ob man den Mut zum NEIN gehabt hätte - und sich gewünscht haben, diese Frage aus voller Überzeugung mit JA beantworten zu können.


Bewegend war der Abend auch wegen der Musik "Lider fars lebn - Lieder für das Leben". Welche Kraft, welche Trauer, aber auch welche Zuversicht sprach in meinen Ohren aus ihren Liedern. Mir liefen die Tränen übers Gesicht (und auch jetzt beim Schreiben ist das Gefühl von damals wieder da). Und dann geschah das für mich Unglaubliche: Bei dem Lied "Mir lebn ejbig" fingen die ersten im Publikum an, rhythmisch zu klatschen. Dann wurden es immer mehr, die ersten standen auf und rissen schließlich fast den ganzen Saal von ihrem Stuhl.

Fast.
Ich blieb sitzen. Ich klatschte nicht. Und ich war auf einmal seeehr einsam.

Ich konnte es nicht fassen: Da hatten gerade eben noch alle bedächtig genickt, als die Rede war von der notwendigen Kraft, gegen den Strom zu schwimmen - und nicht einfach mitzulaufen, wenn die Masse ins Rennen kommt.

Und dann kommt die Masse ins Rennen und alles läuft mit. Die Wenigen, die wie ich nicht rhythmisch mitklatschten und erst Recht nicht aufstanden, waren wohl an einer Hand abzuzählen. Wegen der um mich herum Stehenden konnte ich nur einen einzigen Menschen ausmachen, der wie ich sitzen geblieben war. Konnte es wirklich sein, dass nur eine Handvoll Mensch so ergriffen war, dass uns trotz der schmissigen Musik nicht nach Ringelpietz-mit-Anfassen zumute war?

Nein, das konnte nicht sein. In den darauffolgenden Tagen kamen einige beschämt auf mich zu, um mir zu sagen, dass sie dieses Verhalten eigentlich auch nicht als angemessen betrachtet hätten - aber sich auch nicht als Außenseiter fühlen wollten. Und irgendwie leitete sie auch der Gedanke "Wenn alle so empfinden, nur ich nicht, dann haben die doch Recht und nicht ich, oder?".

© Antje Radcke
Ich spürte damals, wie schwer es sein kein kann, NEIN zu sagen, wenn man in der Minderheit ist. Aber ich spürte auch, dass es stark macht. Und wer den Anfang macht, kann sicher sein, dass die Einsamkeit weicht zu Gunsten eines innigen Zusammengehörigkeitsgefühls unter denen, die auch NEIN sagen. Schon mal erlebt?
Das kann man gut üben, z.B. in einer Theatervorstellung, die man grottenschlecht findet, aufstehen und gehen - oder wenn alle klatschen und aufstehen, sitzen bleiben und nicht klatschen. Oder wie Susanne Gordon-Oberhofer es in ihrem Blogpost "Zornige Frauen" erzählt.

Nicht aus Prinzip NEIN sagen - sondern aus tiefer innerer Überzeugung.
Das setzt voraus, dass wir überhaupt in der Lage sind, unserer inneren Überzeugung auf die Spur zu kommen. Wenn wir es aber nicht versuchen, werden wir zwangsläufig zu Mitläufern.

Ich bin manchmal gern einsam.


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