Was Ödipus mit den Krawallen in Großbritannien zu tun hat

© ioannis kounadeas
Eine meiner Lieblingszeitschriften ist die brand eins. In der aktuellen Ausgabe „Heimliche Helden“ (08/2011) stolperte ich über ein Interview mit dem Geisteswissenschaftler Christian Schneider – Titel des Interviews: „Heldenland Ist abgebrannt“ (S. 36 ff).

Dieses Interview wurde zu einem Zeitpunkt geführt, als die jüngsten Krawalle in Großbritannien noch kein Thema waren – und doch liest es sich wie maßgeschneidert auf die aktuellen Ereignisse. Mehr noch: Schneider gibt uns ordentlich Futter zum Nachdenken. Nachdenken auch darüber, dass die frühere Kandidatin für die Bundespräsidentenschaft Gesine Schwan vielleicht doch Recht haben könnte mit ihren Unkenrufen im Jahr 2009, auch in Deutschland seien „soziale Unruhen“ vorstellbar. Niemand wollte das damals hören – und auch heute schließen die meisten Politiker(innen) reflexhaft die Augen. Wer will schon Antworten geben auf Fragen, deren Existenz man besser leugnet?

Das Interview ist insgesamt sehr lesenswert und bietet viele Ansätze zum Nach- und Weiterdenken. Besonders bemerkenswert finde ich die Geschichte von Ödipus. Für Schneider ist Ödipus ein „Held des Fortschritts“, der das Alte beseitigt und das Neue ermöglicht. Ödipus ermordet seinen Vater, um mit Vergangenheit und Gegenwart abzurechnen und sich so Platz für seinen eigenen Lebensentwurf zu schaffen.

Was hat das nun mit den Krawallen in Großbritannien zu tun? Laut Schneider leben wir in einer „heißen Kultur“, deren Gesetz die ständige Veränderung sei. Wo aber „Veränderung, Erneuerung und Weiterentwicklung“ unterdrückt werden, „entstehen scheinbar unaufhaltsam Bewegungen wie die in Arabien.“ Ich füge hinzu: Oder Großbritannien. Der große Unterschied besteht allerdings darin, dass die Jugendlichen in London scheinbar ziellos agieren („creating chaos without certain goal of socio-economic transformation“, wie es die World Federation of Youth formuliert).

Warum das so ist, könnte eine weitere These von Schneider erklären: Uns fehlen die Helden. Mir persönlich – insbesondere als Frau – gefällt der Begriff „Identifikationsfiguren“ besser. Aber egal, wie wir es nennen: Wenn einer Gesellschaft diese positiven Vorbilder  fehlen, fehlen eben auch deren „große gesellschaftliche Bindungskräfte über soziale Schichten und Differenzen hinweg“. Die Folge laut Schneider: Die „Gesellschaft als Gemeinschaftsprojekt“ zerfällt, das untere Drittel „ist wirtschaftlich und sozial nicht mehr einbindbar.“

Ich finde, wir sollten die Gedanken Schneiders ernsthaft diskutieren. Auch wenn sie zum Teil sicher Widerspruch auslösen: Abwarten, Tee trinken (den sich ein Drittel unserer Gesellschaft nicht leisten kann) und hoffen, dass es bei uns schon irgendwie gutgehen wird, ist die denkbar schlechteste Art, mit den Ereignissen in Großbritannien umzugehen.

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