Ich liebe Märchen...

... besonders dann, wenn die Märchen von Leuten erzählt werden, die das "Ende der Märchenstunde" fordern.

Bislang habe ich das 2009 erschienene Buch mit dem gleichnamigen Titel und dem originellen Untertitel "Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt" von Kathrin Hartmann erfolgreich ignoriert. Doch nun ist es in meinem Google+-Stream aufgeschlagen. Der Anlass war ein Interview von nachhaltigleben.de mit der oben erwähnten Autorin ausgerechnet unter der Rubrik "Vorbilder" - leider kann ich nicht erkennen, wann dieses Interview veröffentlicht wurde (der erste Kommentar dazu stammt von heute - könnte also sein, dass der Beitrag relativ neu ist). 

Nun habe ich das Interview nebst einleitendem Kapitel gelesen. Und ich rege mich auf.

Warum ich mich aufrege? Weil Frau Hartmann Märchen erzählt. Und weil diese Märchen momentan sehr beliebt sind. Und weil es eben Märchen sind. (Außerdem rege ich mich gern über solche Sachen auf - das schärft das Bewusstsein.)

Märchen N°1 - "Bio ist eine finanzielle Entscheidung"
"Sich für Lebensmittel aus so genannter biologischer Herkunft zu entscheiden, ist leider keine Grundsatzentscheidung, ... Es ist tatsächlich eine finanzielle Entscheidung."
Dieses Zitat stammt nicht von Kathrin Hartmann, sondern von der Autorin des Einleitungskapitels, Sarah Kern. Sorry, Frau Kern - aber das ist ein Märchen. Wer bewusst und gesund genießt, ebenso auch außerhalb der Ernährungsfrage über sein/ihr Handeln nachdenkt und im Sinne von Nachhaltigkeit lebt, trifft eine Grundsatzentscheidung. Ich persönlich habe diese Grundsatzentscheidung vor 27 Jahren getroffen - ich hatte 2 kleine Kinder und lebte für einige Zeit von Sozialhilfe.
Voraussetzung ist allerdings, dass man nicht seinen herkömmlichen Lebensstil beibehält und nur BIO davor setzt - das ist in der Tat deutlich teurer. Wer aber begreift, dass ein 7-Tage-Urlaub mit den Kindern auf einem Bio-Bauernhof in der Region tausendmal wertvoller ist als eine 3-wöchige Safari irgendwo in Afrika, der bekommt eine Ahnung davon, dass nicht BIO unser Leben teuer macht sondern unser Lebensstil.
Das Gleiche gilt auch für unsere Lebensmittel: Wenn ich Bio-Weißbrötchen oder Bio-Weißnudeln kaufe, brauche ich deutlich mehr davon, um satt zu werden als bei Vollkornprodukten - abgesehen davon, dass Letzteres gesünder ist und besser schmeckt (bzw. überhaupt nach irgendwas schmeckt). Die meisten aber leisten sich lieber Lebensmittel, denen man das Wertvollste entfernt und in die Tierfutterproduktion gegeben hat. Als Ausgleich für die fehlenden Vitamine werden dann "Nahrungsergänzungsmittel" gegessen (auch nicht unbedingt ein billiger Spaß).

Märchen N°2 - Der Kauf von als "nachhaltig" gelabelten Produkten ist lediglich ein Deckmantel für weiterhin ungehemmten Konsum.
"Das Versprechen von Nachhaltigkeit, Klima- und Umweltschutz ist an den Kauf der Produkte gekoppelt. Es geht also nicht darum, weniger zu konsumieren, sondern genauso viel – aber mit gutem Gewissen." (Kathrin Hartmann)
Wenn wir mal davon ausgehen, dass die Wenigsten von uns Lust haben - wie z.B. Mark Boyle - komplett auszusteigen, dann haben wir im Wesentlichen vier Möglichkeiten:

  1. Wir ändern nichts. 
  2. Wir kaufen im Wesentlichen das Gleiche, achten beim Kauf aber auf unabhängige Nachhaltigkeitslabels. 
  3. Wir kaufen weniger, aber die gleichen Produkte wie vorher. 
  4. Wir konsumieren weniger und achten zusätzlich auf nachhaltige, ökologisch verträgliche und/oder regionale Produktion. 

Auch wer Mathematik nicht zu seiner/ihrer Lieblingsbeschäftigung zählt, kommt schnell zu der Erkenntnis, dass 1 die schlechteste und 4 die beste aller Alternativen ist. Bei 2 und 3 bräuchte ich Hilfe von Experten, um zu entscheiden, was klimaverträglicher ist - dass beide aber besser als 1 und schlechter als 4 sind, behaupte ich mal ohne Nachzurechnen. Wer nun das Beachten von Labels grundsätzlich schlecht redet, liefert der ersten Kategorie kostenlos das gute Gewissen fürs Nichtstun. Die vierte Gruppe findet ihren Weg garantiert ohne Frau Hartmann aus einer inneren Überzeugung heraus. Die Gruppen 2 und 3 werden wir im Sinne eines Weiterdenkens aber nur erreichen, wenn wir differenziert argumentieren.
Es ist richtig, Labels und deren tatsächlichen Nutzen zu hinterfragen. Aber unabhängige Labels können auch eine wichtige Orientierung bieten - damit ich nicht vor jedem Kauf eines neuen Produkts zunächst ausgiebige Recherchen anstellen muss über die Hintergründe der Produktionsweise. Und wenn wir uns gegen eine nachhaltige Lebensweise entscheiden, dann sind nicht die Label schuld, sondern wir selbst.

Märchen N°3 - Echte Nachhaltigkeit bringt keinen Profit, sondern Verluste.
Mit "Greenwashing" wollen die Konzerne "ihren Profit sichern. Echte Nachhaltigkeit würde ihnen kein Profit, sondern Verluste bringen. Denn am billigsten lässt sich da produzieren, wo man auf Umweltschutz und Menschenrechte eben keine Rücksicht nehmen muss. Unter einem grünen Deckmäntelchen betreiben sie ihr schädliches Kerngeschäft einfach weiter." (K. Hartmann)
Wenn nachhaltige Produktionsweisen grundsätzlich nur Verluste bescherten, gäbe es viele Unternehmen z.B. aus der Lebensmittel- oder Bekleidungsindustrie gar nicht. Die Voraussetzung für das Gewinnmachen ist allerdings, dass das nachhaltige Wirtschaften nachweisbar ist. Wir geben unser Geld für Produkte aus ökologisch und sozial verträglicher Produktion nur dann aus, wenn wir den Herstellern vertrauen.
Niemand erspart uns aber, genau hinzuschauen. Wenn wir es mit Menschenrechten und Nachhaltigkeit ernst nehmen, dann vertrauen wir nicht der grünen Verpackung sondern achten auf grünen Inhalt und wissen um die vertrauenswürdigen (d.h. unabhängig vergebenen) Label. Eine Pauschalverurteilung von Nachhaltigkeits-, Öko- oder Bio-Labeln jedoch erleichtert nur den Ignorant(inn)en aus Gruppe 1 (s.o.) die Rechtfertigung fürs Nichtstun.

Märchen N°4 - Umstellung auf ökologische Landwirtschaft ist allein Sache der Politik
"Wer einkauft wie immer, aber bio, der ändert nichts an den schädlichen Ursachen, sondern trägt zum Erhalt bei. Es muss darum gehen, die Landwirtschaft weltweit ökologisch umzustellen, nicht darum, möglichst viel Bio zu kaufen. Das lässt sich aber nicht durch Nachfrage regeln, sondern durch politische Entscheidungen." (K. Hartmann)
Diese Aussage hieße im Umkehrschluss (überspitzt ausgedrückt): Niemand braucht mehr Bio zu kaufen, alle müssen die Grünen wählen. Oder wie? Entschuldigung, aber eine solche Haltung ist schlicht falsch. Damit wird lediglich eine Haltung der persönlichen Verantwortungslosigkeit gefördert - und genau diese Verantwortungslosigkeit ist schon jetzt das Problem z.B. bei der Umstellung auf eine alternative Energieversorgung, aber auch in unserem Gesundheitswesen: 
Alle finden erneuerbare Energien toll, aber behalten den Uralt-Heizkessel so lange, bis das Gesetz ihn verbietet. Alle sind für gesunde Ernährung, viele aber haben schon seit Jahren keinen Kochlöffel mehr in der Hand gehabt - und wenn man krank ist, muss Onkel Doktor eben reparieren (und die Politik dafür sorgen, dass man keinen Pfennig zubezahlen muss). 
Die Nachfrage(!) nach Bio-Lebensmitteln hat in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, dass das Angebot gestiegen ist und mehr Flächen als je zuvor ökologisch bewirtschaftet werden. Die politischen Maßnahmen zur Förderung einer nachhaltigen Lebensmittelproduktion sind immer auch Ergebnis einer Wechselwirkung: Konsumenten - zunächst eine Avantgarde auch unter Politiker(inne)n - fragen nach, der Markt bietet an, die politischen Rahmenbedingungen werden verbessert und fördern größere Nachfrage, Markt vergrößert sich, Politik (re)agiert, usw. usf. Selbstverständlich müssen politische Entscheidungsträger/innen auch voran gehen - aber politische Rahmenbedingungen zu schaffen, die keinerlei Entsprechung auf der Nachfrage- und Angebotsseite finden, sind ziemlich wirkungslos.

Märchen N°5 - Wachstum bedeutet Ressourcen- und Energieverschwendung
"Was bringt ein T-Shirt aus Öko-Baumwolle, wenn es trotzdem im Sweatshop unter menschenverachtenden Bedingungen genäht wurde? ... Es gibt kein richtiges Einkaufen im falschen Weltwirtschaftssystem. «Besser als nichts» ist Resignation und bedeutet Stillstand." (K. Hartmann)
Schon mal was vom "qualitativen Wachstum" gehört? Schon mal darüber nachgedacht, dass die nachhaltig produzierenden Betriebe eine wichtige Pioniersleistung vollbringen - die uns zeigen, dass es eine Form von Wachstum gibt, die auf den Kriterien der Nachhaltigkeit beruhen? Mir scheint, Frau Hartmann selbst hat noch niemals selbst ökologisch verträgliche Mode oder Bio-Lebensmittel gekauft - sonst wüsste sie doch, dass es Hersteller gibt, deren Produktions- und Lieferkette vom ersten zarten Pflänzchen bis hin zum fertigen Produkt im Biosupermarkt-Regal strengen kontrollierten und kontrollierbaren Regeln unterworfen sind. Und wehe, ein Hersteller verspricht mehr, als er in Wirklichkeit hält: Die Kunden werden es das Unternehmen spüren lassen. Welcher Produzent von Öko-Mode kann es sich leisten, wenn Journalist(inn)en oder Blogger/innen herausfinden, dass das Öko-Baumwoll-T-Shirt in Wahrheit von Kindern genäht wird?
Außerdem hat die zunehmende Nachfrage(!) nach klimaverträglich produzierten Dingen (inklusive Energie) schon jetzt dazu geführt, dass sich auch für manch ärmeren Teil der Weltbevölkerung neue Chancen ergeben.

Märchen N°6 - Es liegt nicht am Einzelnen, die Welt zu verändern
Man muss "sich die Idee aus dem Kopf schlagen, dass es am Einzelnen liegt, die Welt zu verändern. Das ist ein neoliberaler Gedanke, der Politik und Wirtschaft aus der Verantwortung entlässt. Diese dazu zu zwingen, Verantwortung zu übernehmen, geht nur zusammen mit anderen." (K. Hartmann)
Zusammen mit anderen die Politik zwingen, Verantwortung zu übernehmen? Das setzt erstens voraus, dass jede/r Einzelne(!) handelt, sonst kann es ja bekanntlich kein Zusammen geben. Zweitens sollte es uns alle grausen bei der Vorstellung, dass niemand mehr selbst Verantwortung für sein Handeln übernimmt. Das bedeutet in der Konsequenz nämlich, dass einige wenige Einzelne(!) - die Politiker/innen oder Unternehmer/innen - entscheiden, was für uns gut oder schlecht ist. Ich kenne kein Beispiel, bei dem so etwas auf Dauer gut gegangen ist.

Wenn ich will, dass sich etwas verändert, dann fange ich zuerst bei mir selbst an. Nur so kann ich auch andere für die Idee begeistern.

Ergänzung (18.02.2012): Hier gibt es eine kommentierte Liste, in der ich zum obigen Thema passende Links sammele und regelmäßig aktualisiere.

Kommentare

  1. Hilfe, die Lohas kommen! Wenn sich die Medien überall so gut auskennen wie hier, haben wir schon verloren.... Und wenn man diesen Maßstab anlegt, prägen Spiegel und Co. ein nutzlos kollektives Mindset ohne Plan für die Zukunft ... oder anders gesagt: Sinnlos + beliebig. Medien sind Steigbügel für die Wirtschaft, das ist fassbarer. Das westliche Wirtschaftmodell wird aber in Frage gestellt, denn es führt uns in eine Sackgasse. Dort stehen wir jetzt und glauben es nicht... http://lohas-scout.de/wWIjUg
    Kritik an Ökobewegung:
    www.spiegel.de
    Müll sortieren, Biosprit tanken, Vegetarier werden - übertreiben es die Deutschen mit ihrem Ökofimmel? Aber sicher! Vor allem die Spezies der scheinbar modernen, naturbewussten Städter schadet der Umwelt mehr, als ihr lieb sein dürfte.

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    1. Auf den genannten Spiegel-Artikel hatte ich am 14.03. auf Google+ eine deutliche Antwort gegeben:
      https://plus.google.com/u/0/102902606298362366940/posts/hw4K2Y8B8B7
      Manchmal habe ich ja den Impuls, über solche Artikel einfach hinwegzusehen und milde lächelnd zu schweigen. Noch aber siegt dann ein kräftiges "Das-lasse-ich-euch-nicht-durchgehen".

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