Wunder einer Ausstellung


Heute geschah es. Das Wunder.
In Hamburg schien die Sonne.
Und da ich wegen einschlägiger Erfahrungen niemals darauf hoffe, dieses große runde warme helle gelbe Ding auch am nächsten Tag noch genießen zu können, habe ich heute am frühen Nachmittag den Schreibtisch verlassen.

Dagegen eingetauscht habe ich einen schönen Spaziergang und einen Museumsbesuch. Das hatte ich sowieso schon länger vor, und da die Ausstellung WUNDER - Kunst, Religion und Wissenschaft vom 4. Jahrhundert bis zur Gegenwart - nur noch bis zum 5. Februar zu sehen ist, nutzte ich heute die Gelegenheit.

Vorbemerkung: Die hier gezeigten Fotos sind meine persönlichen Wunder, sie entstammen nicht der Ausstellung sondern meiner Fotokamera. Ein paar Exponate gibt es auf der Museumsseite oder in einem YouTube-Video zu sehen.

"Wunder sind Berührungen mit dem Unbekannten" - so stand es neben einem Exponat und das ist so ziemlich genau das, was ich unter Wunder verstehe. Aber so richtig viel Berührungen mit dem Unbekannten scheint es in Deutschland nicht zu geben: Der "Deutsche Wortschatz" der Uni Leipzig (übrigens eine meiner Lieblingsseiten im Internet) meldet, dass der häufigste linke Nachbar des Wortes Wunder das Wörtchen "kein" ist. (Der häufigste rechte Nachbar ist das Komma :-)

Egal, ich habe mich jedenfalls heute auf die Wunder der Ausstellung ein- und dabei die religiösen Wunder eher ausgelassen (von den meisten hatte ich bereits gehört und ich hatte deutlich mehr Lust auf das Unbekannte).

Als erstes ein Rätsel : Was ist "ein Funken sprühender Leuchtstab"? (Auflösung)

Dann habe ich eine volle Viertelstunde Video geschaut. Zu sehen war eine Art Müll-Ballett des Künstlerpaares Svetlana und Igor Kopystiansky. "Incidents" - ein grandioser Schwarz-Weiß-Film, der im heftigen Wind tanzenden Müll auf der Straße zeigt. Wunderbar. Die Kisten, Tüten, Flaschen, Bänder, Becher etc. entwickeln eine Art Eigenleben und tanzen, schaukeln, flitzen, torkeln, fegen, kugeln, schleichen über den Platz. Sie bäumen oder blähen sich auf, sacken in sich zusammen, drehen Pirouetten, schlagen Salto, rennen um die Wette, kämpfen gegen- oder schmusen miteinander, bleiben erschöpft liegen - bis der nächste Windstoß kommt. Und wie es sich für ein echtes Kunstwerk gehört: Das Video gibts nur im echten Museum zu sehen (jedenfalls konnte ich es im Netz nicht finden).


Wundervoll war der aus unzähligen Facetten bestehende dreidimensionale Spiegel. Hier bin ich eine ganze Weile stehen geblieben, um das Treiben um mich herum kaleidoskop-artig zu betrachten. Ich ertappte mich dabei, wie ich selbst immer wieder meine Position änderte, um das "Kunstwerk" zu beeinflussen (ich hatte einen knallig türkisfarbenen Schal um, der machte sich richtig gut).


Timm Ulrichs "Blaues Wunder" hingegen fand ich unter dem Wunder-Aspekt weniger bewundernswert - die Kinder in diesem Video auch nicht. Blau gefärbte Weinbergschnecken in einem Quadrat zusammenpferchen und dann ihr Auseinanderstreben nach Entfernung des Zauns zu fotografieren, war sicher faszinierend. Aber ist das ein Wunder?


Den Zauberkasten von Goethes Enkeln wiederum habe ich sehr bewundert - insbesondere das "Magische Quodlibet" hatte es mir angetan (aber weniger wegen des Zaubertricks sondern wegen der schönen Bilder). Der gesamte Inhalt des Zauberkastens ist übrigens hier (auf Seite 8) zu sehen.


Etwas verstörend, doch zugleich magisch anziehend wirkte auf mich die Installation "Ghost" von Kader Attia. Zu sehen war die wundersame Verwandlung vieler Schülerinnen (auf mich wirkten die Skulpturen jedenfalls durchweg weiblich) in einen Abdruck ihrer selbst mittels Alufolie. So hockten vor mir auf dem Boden mehrere Reihen von jungen Körpern, die zugleich seltsam real und wundervoll surreal wirkten. Ich vergewisserte mich als erstes, dass da nicht doch echte Menschen verborgen waren. Hier habe ich lange gestanden und mich gewundert - bis mich ein sehr junger Mann bat, ein Foto von ihm und diesem Kunstwerk zu machen. Er brauchte das für die Schule.

Ach, ich könnte noch ziemlich lange weiterschreiben über diese Wunder-Ausstellung. Es lohnt sich, sie zu besuchen. Es lohnt sich aber mindestens eben so sehr, die Augen und Ohren für die Wunder zu öffnen, die uns das Leben bietet. Siehe Fotos.



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